Die zehnstündige Zugfahrt ist diesmal nicht wirklich eine Erholung, der Zug ist proppenvoll und wir sitzen zwischen einer indische Großfamilie, die das Abteil kurzerhand zum Wohnzimmer umfunktioniert hat. Als wir völlig übermüdet am Ziel ankommen, erwarten wir schon fast, von der Horrorfilmindustrie entdeckt zu werden. Blass, dunkle Augenringe und starrer Blick – wir bräuchten vorm Filmdreh nicht mal in die Maske. Ein großer Becher Kaffee, ein Frühstück und etwas frische Luft und wir sehen wieder aus wie vor zehn Jahren und können uns auf den Weg machen. Die Chicago Elevated, wie das städtische Bahnnetz hier genannt wird, ist fix durchschaut und bringt uns schnell und unkompliziert zu unseren neuen Gastgebern in den südwestlichen Teil der Stadt. Nach einer heißen Dusche und einem kurzen Schläfchen sind wir dann bereit, um unser neues Viertel unter die Lupe zu nehmen. Hier wird uns noch nicht allzu viel geboten, ein paar Restaurants, kleine Läden und der McKinley Park, der uns die letzten Nachmittagsstunden versüßt.
Am nächsten Morgen geht es direkt in die Innenstadt, wir wollen sehen, ob vom alten Gangstercharme noch etwas zu spüren ist. Doch statt Gaunern und Halunken sehen wir erstmal nur Geschäftsleute mit Schlips und Kragen – wieviele Gangster sich darunter verbergen, können wir mit bloßem Auge nicht erkennen. Chicago ist hochmodern und schon lange eine der wichtigsten Handelsknotenpunkte der Vereinigten Staaten, die Lage an der Eisenbahnstrecke, die Ost- und Westküste verbindet und der Zugang zum Atlantik, durch den Sankt-Lorenz-Seeweg und den Eriekanal, sind nicht ganz unschuldig daran. Wenn man mal die businessgeprägte Innenstadt etwas verlässt, dann erscheint einem die Stadt wir eine alte Dame, der man ansieht, dass sie einmal aufregend und schön war. Und wenn man die Augen aufhält, erblickt man auch den ein oder anderen älteren Herren in Bundfaltenhose, weißem Hemd, Weste und Hut – ein Gangsteroutfit, das nirgendwo besser passen würde. Für Liebhaber von Blues und Jazzmusik ist die Stadt das Paradies. Aus Cafés und Bars tönt der typische Chicago Blues und in zahlreichen kleinen Clubs kann man täglich Livemusik genießen. Auch die Kunst- und Kulturszene bietet einiges mit Rang und Namen. Skulpturen von Pablo Picasso und Joan Miró, zahlreiche Museen oder ganz junge Kunstwerke, wie The Big Bean, prägen das Stadtbild. Für die ganze Familie finden sich zahlreiche grüne Parks mit Spielplätzen, Freizeitsportanlagen, Springbrunnen oder Biergärten. Auf der Navy Pier Seebrücke am Michigansee ist ein großer Freizeitpark, wie man es von amerikanischen Großstädten gewohnt ist. Das Kulturzentrum ist innen wie außen ein imposanter Bau und bietet täglich ein kostenloses, öffentliches Programm mit Konzerten, Film- und Tanzvorführungen, Lesungen oder Kunstausstellungen. Manchmal sind auch die in den Himmel ragenden Gebäude selbst etwas ganz besonderes, wie zum Beispiel der Tribune Tower in dem heute die gleichnamige Zeitung beheimatet ist. Im Sockel wurden Steine aus anderen bekannten und historischen Bauwerken eingelassen, u.a. aus der Großen Chinesischen Mauer, dem Taj Mahal, der Hagia Sophia, der Cheops-Pyramide, der Berliner Mauer, der Wartburg in Eisenach, Notre Dame oder dem World Trade Center. Ihr seht also, Chicago ist bunt, modern und alles andere als langweilig und man könnte es gut und gerne auch noch etwas länger als drei Tage aushalten, aber wir ziehen jetzt weiter und es ist nicht ausgeschlossen, dass wir irgendwann einmal wieder in dieser Weltmetropole vorbeischauen.
Am Nachmittag besteigen wir wieder einen Amtrak und eine sehr, sehr lange Fahrt bis zur Westküste wartet auf uns. Zwei Tage und zwei Nächte sitzen wir nun in diesem Zug Richtung Seattle und schnell wird klar, dies wird eine ganz entspannte Reise. Eine Schlafwagenklasse haben wir nicht gebucht, dort hätten wir zwar unseren privaten Bereich und ein Bett, aber wir wären auch weit weg vom eigentlichen Geschehen und hätten keine Menschenseele getroffen. Wir sind unterwegs um Natur und Kultur zu erkunden und das gelingt uns nur, wenn wir uns unter die Bevölkerung mischen. Unser erster Kontakt ist unser Zugbegleiter, er sorgt dafür, dass alles und jeder am richtigen Platz ist. Er macht dass für die nächsten fast 48 Stunden ganz großartig. Als erstes kümmert er sich darum, dass wir ausreichend Platz haben und weist jedem von uns rechts und links des Ganges einen Doppelsitz zu. Zwei bezahlt – vier bekommen und wir sind hoch zufrieden und richten uns gemütlich ein. Bei zwei Sitzplätzen hat man in der Nacht eine ganz ordentliche Liegefläche und muss sich nicht beschweren. Tagsüber haben wir Zeit, um ein Buch zu lesen, machen uns mit dem ein oder anderen Mitreisenden bekannt, bekommen Urlaubsfotos zu sehen und gute Tipps, was man auf keinen Fall in den Staaten verpassen darf oder wir sitzen einfach nur da und starren aus dem Fenster, das ist besser als Fernsehen. Manchmal ist die Gegend so wunderschön, dass es uns ganz traurig macht, nicht aussteigen zu können. Dies geht uns vor allem in Montana so, grüne Wälder, schneebedeckte Berggipfel, Seen und die berühmte 50 Meilen lange Panoramastraße Going-to-the-Sun Road, all das können wir heute nur beim Vorbeifahren bewundern … ganz klar, dass dieser Bundesstaat prompt auf unserer Reisewunschliste landet. Beim Reisen werden übrigens die Orte, die man noch alle besuchen will, nicht weniger, sondern immer mehr. Ein Teufelskreis und nun müssen wir bis ans Ende unseres Lebens reisen. Nicht, dass uns das etwas ausmachen würde, aber eigentlich hatten wir gedacht, nach zwölf Monaten sind wir erstmal gesättigt – tja, so kann man sich täuschen. Nachts kuscheln wir uns in unsere Schlafsäcke, lassen uns vom Rattern des Zuges in den Schlaf wiegen und träumen von fremden uns unbekannten Orten.