Unser nächstes Ziel ist eine Stadt im zentralen Hochland von Chiapas. Auf der Strecke liegt „Agua Azul“ einer der schönsten Wasserfälle Mexikos, den wir uns zu gerne anschauen wollen. Doch es gibt einen Hinweis vom Auswärtigen Amt, die Straße über Ocosingo zu meiden, da es immer wieder zu Überfällen, durch die dort ansäßigen Zapatisten, kommt. Zwei Tage vor Aufbruch erhalten wir auch noch von Freunden aus Deutschland die Nachricht, dass genau auf dieser Strecke zwei Touristen ums Leben gekommen sind und unser nächster Gastgeber empfiehlt uns ebenfalls einen Umweg zu fahren. Also gut … safety first … wir werden wohl auf den Anblick des wundervollen blauen Wasserfalls verzichten müssen. Der Umweg hat es in sich, statt 250 km müssen wir 750 km zurücklegen und bei der Hitze versagt sogar die Klimaanlage und verweigert ihren Dienst. Umso glücklicher sind wir, als wir am Nachmittag endlich in San Cristóbal de las Casas ankommen und hier auf über 2000 m Höhe sind auch die Temperaturen angenehm kühl. Zuerst müssen wir uns aber mit unserem Auto durch die engen Gassen schlängeln und unsere Unterkunft finden. Klingt erstmal nicht so spannend, wird aber aufregend, wenn man vor sich trotz Navi plötzlich eine Treppe hat, die mit dem Auto nicht passierbar ist und nicht genug Platz zum Wenden vorhanden ist. Aber wir schaffen es trotzdem bis zur Unterkunft. Als Rafael uns begrüßt und das Tor öffnet, verbirgt sich dahinter eine grüne Oase. Auf einem wunderschönen Grundstück am Berghang hat Rafael mehrere Häuschen gebaut und in einem davon werden wir die nächsten Tage wohnen. Wow, wir sind sofort verliebt, in das Grundstück, in die so liebevoll aus Naturmaterialien gebauten Häuser und in Rafael, der uns so warmherzig empfängt. Das ist eine Kombination, die dazu führt, dass wir uns sofort angekommen und Zuhause fühlen.

Seit Jahrmillionen bahnt sich der Río Grijalva einen Weg durch die Felsen und schuf so den Sumidero Canyon, der heute von bis zu 1000 m aufragenden Felswänden gesäumt ist. Dieses Naturwunder können wir uns natürlich nicht entgehen lassen. In Chiapa de Corzo besteigen wir mit einigen anderen Touristen ein Motorboot und können die steilen Felsformationen von unten bewundern. Das ist wahrlich beeindruckend und wir sind sofort an unser geliebtes Norwegen erinnert, wo wir zum letzten Mal so tiefe Schluchten hinauf- und hinabschauen konnten. Hier in Mexiko können wir wieder einmal erkennen, dass die Natur unbestritten eine Künstlerin ist, denn sie hat im Gestein Höhlen, Grotten und faszinierende Formationen hinterlassen. Der sogenannte Weihnachtsbaum ist von Weitem schon gut als solcher zu erkennen und obwohl die moosbewachsenen Ausbuchtungen heute im trockenen liegen, lässt der Anblick unser Herz ein bisschen höher schlagen. In der Regenzeit ergießt sich über diesen im Fels hinterlassenen „Baum“ ein Wasserfall und man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie wundervoll es aussieht, wenn das silberne Nass von hier aus in den Canyon stürzt. Ebenso vielfältig zeigt sich die Tierwelt, wir können große Krokodile sehen, die sich auf den Steinen sonnen, Klammeraffen, die ganz aufgeregt ihre Kunststücke vorführen und sich von Ast zu Ast schwingen, Reiher, die majestätisch auf ihren langen Beinen am Rand des Canyons stehen oder Kormorane und Geier, die mit ihren breiten Schwingen übers Wasser gleiten.

Dies alles wäre so wundervoll, wenn es die Variable Mensch nicht gäbe, denn was dieser im Canyon hinterlässt, ist alles andere als schön. Auf der Wasseroberfläche schwimmt jede Menge Müll und das entlang des gesamten Flusslaufs. Plastikflaschen, Flip Flops, Chipstüten, Einkaufstüten, Benzinkanister, Kaffeebecher … und mitten drin Krokodil und Kormoran. Wir sind entsetzt und uns blutet das Herz. Was ist eigentlich los mit den Menschen, sind sie blind? Mit keinem Wort erwähnt der Guide diesen Zustand und steuert das Boot durch die Müllkippe, als wäre es das Normalste auf der Welt. Wenn man davon ausgeht, dass nur ca. 20% des Abfalls auf der Wasseroberfläche schwimmt, wird das Ausmaß der Katastrophe erst richtig deutlich. Qualvoll müssen die wunderschönen Tiere an unserem Verpackungswahn und einer rücksichtslosen Industrie, die ihren Müll zu Tonnen in den Meeren entsorgt, zu Grunde gehen. Mit Plastiktüten und Fischernetzen stranguliert oder verhungert mit einem Magen voller Plastikteilchen verenden jährlich zehntausende Tiere. Das dieser Müll in Form von Mikroplastikteilchen auf unseren Tellern landet und so den Weg zurück zum Menschen findet, ist kein Geheimnis mehr. Man könnte ja sagen, geschieht der Gattung Mensch ganz recht, aber leider trifft es wie immer vor allem Unschuldige, nämlich die Generationen nach uns. Unverständlich für uns bleibt, warum den Leuten ihre Kinder, Enkel und Urenkel schlichtweg egal sind. In Deutschland sind wir schon sehr weit mit unserem Umweltschutz und hoffentlich ein gutes Beispiel für all die Länder auf dieser Welt, die es noch nicht gerafft haben. Aber auch Zuhause hören wir immer wieder, dass das Ganze völlig übertrieben und geradezu sinnlos ist und wir sehen förmlich einige Augen rollen, während sie diesen Beitrag lesen. Wir sind keine Umweltaktivisten, aber normal denkende Menschen und wir müssen viel auf dieser Reise lernen. Augen auf und Gehirn an … wäre mal das erste, was jeder Einzelne tun könnte.

Nach der Bootsfahrt machen wir uns auf, um den Canyon von oben zu betrachten. Der Nationalpark bietet entlang der Schlucht viele Aussichtspunkte von denen aus man den Blick hinab wagen kann. Nicht weniger beeindruckend als von unten, nur leider lässt uns das Wetter etwas im Stich. Irgendwann müssen wir unsere Tour abbrechen, denn wenn es hier regnet, kommt dies einer Sintflut nahe.

Einen wirklich aufregenden Tag verbringen wir, als wir das nahe gelegene Dorf Chamula besuchen. Schon im Vorfeld werden wir darauf hingewiesen, dass wir von der indigenen Bevölkerung nicht allzu viel Freundlichkeit erwarten dürfen, auf jeden Fall genügend Kleingeld brauchen und unter allen Umständen das Fotografieren unterlassen sollen. Bisher haben wir nur von geführten Touren zu diesem Dorf gehört, ob es klug ist auf eigene Faust diesen Besuch zu wagen, wissen wir nicht wirklich. Andreas seine Begeisterung hält sich auch in Grenzen, doch Kerstin will die Gelegenheit, eine echte Mayagemeinde zu besuchen, nicht verpassen. In Chamula angekommen, parken wir nahe einer großen Kirche, vor der sich ein riesiger Markt befindet, auf dem die Einheimischen Kleider, Schuhe, Schmuck, Getränke und jede Menge Obst und Gemüse verkaufen. Als wir durch die Stände schlendern, werden wir kritisch beäugt. Keiner bietet uns etwas an, aber die strengen Blicke verfolgen uns pausenlos. Hier sind nicht viele Touristen zu finden und wahrscheinlich warten die Anwohner nur darauf, dass wir unsere Kamera zücken, aber was dann geschieht, wollen wir nicht wissen, also lassen wir sie lieber im Rucksack. Von den Unterhaltungen, die über unsere Köpfe hinweg geführt werden, können wir nichts verstehen, denn die Indigenen sprechen weder Spanisch noch Englisch, sie unterhalten sich in einer uralten Mayasprache.

Natürlich wollen wir wissen, was sich hinter den Kirchenmauern abspielt, denn hier vermischt sich christlicher Glaube mit alten Maya-Riten. Wie das wohl funktioniert? Nachdem wir unseren Obolus bezahlt haben und noch einmal streng darauf hingewiesen werden auf keinen Fall zu fotografieren, können wir die heiligen Hallen betreten. In den ersten Sekunden bleibt uns das Kircheninnere verborgen, denn unsere Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Nur auf einer Seite gibt es Fenster, aber selbst die lassen kaum einen Lichtstrahl ins Innere. Kerzen über Kerzen, das sind die einzigen Lichtquellen hier. An den Seitenwänden stehen nebeneinander aufgereiht zig Heiligenstatuen in Glasvitrinen, die Sitzbänke fehlen gänzlich und auf dem Boden der gesamten Kirche liegt ein dicker Teppich aus grünen Kiefernadeln. Die Betenden knien oder sitzen auf dem Boden, manche allein, manche mit der Familie, einige vor einer Heiligenstatue, andere mit Blick auf den großen Altar in der Mitte. Sie fegen mit den Händen die Kiefernadeln zur Seite und befestigen schmale Kerzen in Dreier- oder Viererreihen vor sich auf den gefliesten Boden. Ein Mann in unserer Nähe zündet eine Reihe seiner Kerzen an und murmelt relativ laut für uns unverständliche Worte. Als die Kerzen runter gebrannt sind, wird die nächste Reihe entzündet und weitergebetet. Er spricht so inbrünstig mit geschlossenen Augen seine Worte, dass man davon ausgeht, er befindet sich in Trance – bis plötzlich ein Handy klingelt … der Mann öffnet die Augen, greift in seine Tasche und führt fix ein kurzes Telefongespräch, als das moderne Kommunikationsmittel wieder in seiner Hosentasche verschwindet, fällt er sofort wieder in Trance. Als alle Kerzen runtergebrannt sind, steht er auf, bekreuzigt sich dreimal, küsst das Jesuskreuz, welchen am Eingang steht und verlässt das Gotteshaus. Zur gleichen Zeit betritt eine Familie die Kirche mit jeder Menge Kerzen und Räucherwaren, einem Hahn, der in einer Pappkiste verstaut ist und einer Flasche Coca Cola. Sie lassen sich mitten in der Halle nieder, stellen ihre Kerzen auf, ein Mann in einem traditionellem Gewand kniet und betet laut und die anderen stehen um ihn herum. Das Spektakel erregt jede Menge Aufmerksamkeit, aber was da genau geschieht, bleibt uns erstmal ein Rätsel. Unweit von uns steht ein englischsprachiger Guide mit seiner Truppe und erklärt das Vorgehen. Die Familie ist mit einem Schamanen gekommen um ein Opfer zu bringen und somit um etwas zu bitten. Upps – jetzt geht es wohl dem Hahn an den Kragen. Ja ganz recht, dem Hahn nützt kein Flattern und kein Krächzen, ihm wird mitten in der Kirche die Kehle durchgeschnitten, das Blut in ein Gefäß geträufelt und … jetzt kommt`s … mit Coca Cola vermischt. Waaas? Ja … kein Scheiß! Moderne Welt trifft auf alte Maya-Rituale. Smartphone auf Gebete – gekillter Hahn auf Coca Cola. Für uns alles sehr befremdlich und in diesem dunklen großen Raum mit all dem Gemurmel und Gerüchen wird einem ganz schwummrig. Als wir ins Freie treten, müssen wir erstmal durchatmen und Andreas nutzt das Gewusel auf dem Kirchenvorplatz um ein Foto von dem Gebäude zu machen.

Zurück am Auto müssen wir feststellen, dass es zugeparkt ist. Gegenüber sitzen zwei Männer mittleren alters und beobachten uns. Nicht schwer zu erraten, wem das Gefährt gehört, was uns im Wege steht. Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten, die Männer ansprechen und ein paar Scheine abdrücken oder abwarten, wer mehr Ausdauer hat. Wir setzen uns neben unser Auto und machen uns eine Zigarette an. Wir haben keinen Zeitdruck! Genau genommen wissen wir seit einem halben Jahr gar nicht mehr, was das ist. Nach ca. 30 Minuten fährt einer der beiden Männer mit dem Auto davon und auch wir können unserer Wege ziehen.

Da wir uns in unsere Unterkunft in der kleinen Oase verliebt haben, verlängern wir kurzer Hand unseren Aufenthalt. Da spüren wir sie wieder, die große Freiheit, denn es gilt – alles dürfen, nichts müssen. Wir verbringen erholsame Tage in diesem wundervollen Haus, schauen uns San Cristóbal an, ruhen uns aus, beobachten die Eichhörnchen in unserem Garten, sehen zum ersten Mal einen Kolibri, kochen und essen gemeinsam mit Rafael unserem Gastgeber und lernen so einen warmherzigen und intelligenten Philosophen kennen, der die Liebe zur Freiheit und zur Natur mit uns teilt. Getrübt wird diese schöne Zeit durch die Nachricht, dass der deutsche und der polnische Radfahrer, die man beide vor einer Woche Tod aufgefunden hat, einem Mord zum Opfer gefallen sind. Das führt nicht gerade zu einem sicheren Gefühl, wenn man durch dieses Gebiet fährt und da die Menschen hier in Cristóbal vom Tourismus leben, ist es für sie eine ebenso beunruhigende Nachricht wie für uns. Also tun sich Einheimische und Touris zusammen und demonstrieren noch am gleichen Abend gemeinsam gegen Gewalt.

Nur schweren Herzens verlassen wir unser Domizil, aber irgendwann müssen wir uns trennen. Auf dem Rückweg fahren wir durch Villa Hermosa und wir wissen von unserem Freund Gerhard, dass sich hier ein ganz außergewöhnliches Museum befindet. Hier werden riesige Skulpturen einer uralten und längst vergangenen Kultur ausgestellt. Die Olmeken lebten von 1500 v. Chr. bis 400 v. Chr. entlang der Golfküste, ihre ethnische Herkunft kann nicht mehr zugeordnet werden, aber sie haben Kunststücke hinterlassen, die wir heute mit großem Staunen in Mexiko bewundern können.

Nach dieser kulturellen Pause fahren wir weiter bis Ciudad del Carmen, eine Insel am Golf von Mexico und finden ein kleines Paradies. Am Straßenrand wachsen überall Kokospalmen, Bananenpflanzen und Mangobäume und alle tragen so viele Früchte, dass einem kurz die Idee kommt, im Schlaraffenland zu sein und auf der anderen Straßenseite befindet sich ein endloser Strand mit Bambushütten und einem blauen Golfstrom, der immer wieder zum anhalten einlädt. Aber diese schöne Insel dient uns nur als Zwischenstopp und wir übernachten ganz unspektakulär für eine Nacht in einem Hotel, um uns direkt am nächsten Morgen wieder auf den Weg zu machen.

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